Tracey Emin hat eine Reihe offener Rechnungen. Zumindest zu Beginn ihrer künstlerischen Arbeit hat sie diejenigen, die ihr etwas schuldig geblieben sind, mehr oder weniger deutlich darauf hingewiesen.
In den 1960er-Jahren vollzog die Industrie der reproduzierbaren Wirklichkeiten mit dem 8-mm- und Super-8-Filmformat einen weiteren Schritt in die Wohnzimmer. Zu den Diaabenden von Familienfeiern und Urlauben kam der Filmabend hinzu. Leichte Bedienbarkeit der handlichen Kameras, lichtdichte Kassetten für das Filmmaterial mit einer Versandtüte an das Entwicklungslabor und kleine Schneide- und Vertonungsgeräte für den ambitionierten Amateur wurden Wegbereiter für das spätere Massenmedium Video.
Mit leicht verwackelten, unscharfen, nicht ausgeleuchteten Filmaufnahmen von Häusern, Straßenzügen und Blicken über den Strand fängt Emin in ihrem Super-8-Film Why I Never Became a Dancer ganz beiläufig die Atmosphäre eines solchen Amateur-Urlaubsfilms ein. Orte und Plätze bleiben unspezifisch und nichtssagend. Erst der Kommentar füllt sie konkret mit Geschichte und Erinnerungen.
Emin kehrt in das Margate der späten 1970er-Jahre zurück. Dort ist sie aufgewachsen und hat ihre Jugend verbracht. Margate hatte sich schon zu Königin Victorias Zeiten zu einem Ausflugsziel und Ort für die Sommerfrische entwickelt, der eine Flucht aus dem Moloch London erlaubte. Wer es sich leisten konnte, kam mit dem Schiff die Themse herunter, um direkt an den Margate Piers an Land zu gehen.
Im Sommer halten sich heute dort diejenigen auf, die sich den großen Urlaub im Süden nicht leisten können. An den Wochenenden kommen Besucher aus London, die sich in Pubs und Diskotheken preiswert amüsieren wollen. Wer dort lebt, möchte nicht bleiben.
Emin erzählt parallel zu den Bildern, wie sie in dieser Stadt aufwuchs. Sie nennt die Plätze, an denen sie Zeit verbrachte. Sie erwähnt den Sex, den sie im Alter von elf, 13 Jahren mit vielen Männern quasi en passant hatte. Sex, der sie oft mit dem schlechten Gefühl, einfach nur benutzt worden zu sein, mit einer Verlassenheit und einer Leere zurückließ und der sie schnell zu einer Geringschätzung, ja Verachtung der Männer führte. Doch spricht sie auch von der Macht, die sie mit Sex über Männer ausüben konnte. Die Verfügbarkeit ihres Körpers für andere, tauschte sie später ein für die Selbstbestimmung des Körpers beim Tanzen. Tanz löst den Sex ab. Sie beteiligt sich an einem Discotanzwettbewerb. Sie fliegt auf einer Wolke. Sie sieht sich bei den nationalen Endausscheidungen. Sie träumt davon, aus Margate wegzukommen. Sie ist glücklich mit sich und zufrieden mit ihrem Körper. Frenetische Rufe: „Slag, Slag, Slag [1]“ aus dem Publikum – mit vielen von den Jungs hat sie Sex gehabt – holen sie zurück aus ihrem Traum. 1995 hat sie Margate schon lange hinter sich gelassen, aber nicht ihre Erinnerungen und Verletzungen. Jetzt wird sie es diesen Jungs zeigen. Sie ist in London in einem großen Atelier mit Blick über den Park, den ganzen Raum hat sie für sich. Musik läuft. Sie tanzt. Sie ist frei. Sie ist besser, als all die anderen.
(Text von Rainald Schumacher aus: fast forward. Media Art Sammlung Goetz, Hamburg 2003)
[1] Slag: englisch umgangssprachlich Nutte